Michael Larcher über Lawinenrucksäcke: „Für Freerider sollte der Lawinen-Airbag allmählich Standard sein.“

Portrait: Michael LarcherIn diesem Beitrag liest du ein Interview mit Michael Larcher. Michael ist staatlich geprüfter Bergführer, gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Alpinunfälle in Österreich und Leiter der Abteilung Bergsport im Alpenverein. Zudem hat Michael bereits zahlreiche Fachartikel, Zeitschriften (als Chefredakteur) und auch Bücher zum Thema Sicherheit in den Alpen veröffentlicht.

In dieser Interviewserie habe ich mehrere Experten zum Thema Lawinenrucksäcke interviewt. Diese Experten stammen nicht direkt aus dem Lager der Lawinenrucksack-Hersteller. Diese würden sich schließlich immer für Airbags ausprechen. Ich habe mit Personen gesprochen, die im Winter fast täglich mit dem Bewegen abseits der gesicherten Pisten konfrontiert sind.

Hallo Michael, bitte stelle dich meinen Lesern kurz vor:

Michael Larcher, Mag., geboren am 26.11.1959 in Hall in Tirol. Volks- und Hauptschule in Absam, Matura an der HTL für Elektrotechnik in Innsbruck. Germanistik- und Sportstudium ebendort. Ausbildung zum staatlich geprüften Berg- und Skiführer 1984, somit seit 31 Jahren Bergführer und Ausbilder. Beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Alpinunfälle. Seit 1992 im Headquarter des ÖAV (=österreichischer Alpenverein, Anm.) in Innsbruck. Leiter der Abteilung Alpenverein-Bergsport.

Sicherheit & Risiko: Seit 1992 zahlreiche Beiträge zur Sicherheit im Bergsport: Entwicklung der Risikomanagement-Strategien „Stop or Go“ (1999, gemeinsam mit Robert Purtscheller) und „Partnercheck“ (1997). Begründer und langjähriger Chefredakteur von „bergundsteigen – Menschen.Berge.Unsicherheit“, Autor des Standardwerkes „Seiltechnik“ (mit Heinz Zak). Leiter der staatlichen Instruktoren-Ausbildung für Skitouren, Hochtouren und Klettern-Alpin.

Aktiv: 1985 Masherbrum-Nordwand (7.821 m, Karakorum) auf neuer Route, 1988 vergeblicher Versuch der Wiederholung der Eggerführe am Cerro Torre, Matterhorn-Nordwand (Winterbegehung), zahlreiche schwierige alpine Klettertouren in den Alpen – unter vielen anderen: Wetterstein/Locker vom Hocker (8), Marmolada/Moderne Zeiten (7+), Laliderer-Nordwand/Charly Chaplin (7-), Civetta/Philipp-Flamm-Verschneidung, Kreuzkofel/Mittelpfeiler, 1. Solobegehung der Routen „Buhl-Durchschlag“ (6+) und „Jungmannschaftsriss“ (6+) im Halleranger/Karwendel.

Privat: Michael Larcher lebt in Innsbruck, gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth und den gemeinsamen Kindern Rafael, David, Daniel und Johannes.

Wie stehst du zum Thema Sicherheit beim Skifahren/Snowboarden im freien Gelände?

Im freien Skiraum, abseits gesicherter Pisten, ist Unsicherheit der Normalzustand. Sicherheit ist ein geistiges Konstrukt, eine Illusion. Es geht also darum mit Unsicherheit umzugehen, Unsicherheit „bearbeitbar“ zu machen und ein persönlich akzeptables Restrisiko zu erreichen.

„Risikomündigkeit“ – das ist ein Bildungsziel des Alpenvereins. Es bedeutet, die Gefahren zu kennen – die Gewinn- und Verlustmöglichkeiten -, sich der eigenen Grenzen in der Vorhersagbarkeit von Ereignissen bewusst zu sein und die heute zur Verfügung stehenden Strategien, Techniken, Empfehlungen zu kennen und anwenden zu können. Dann entscheidet die persönliche Risikobereitschaft über das Maß an verbleibendem Risiko.

Wer sein Glück beim Steilwandskifahren sucht, lebt gefährlicher als ein Tourengeher oder Freerider, die wiederum leben gefährlicher als Pistentourengeher oder Pistenfahrer. Empfehlungen des Alpenvereins sind logischerweise auf den Breitensport abgestimmt, nicht auf den Extrem-Alpinismus. Im Bereich „Risikomanagement auf Skitouren“ fasst der Alpenverein seine Empfehlungen unter der Namen „Stop or Go“ zusammen.

Das bedeute in aller Kürze: bei Stufe 3 bleib unter 35 Grad Steilheit und prüfe zudem, ob es besondere Gefahrenzeichen – wie z.B. „frischen Triebschnee“ – gibt. Auch die Ausnahmen von der Regel sind definiert: Ist es z.B. „stark verspurt“, dann kann man auch steiler gehen/fahren als es die Grundregel vorgibt. Zudem bieten wir sogenannte „Standardmaßnahmen“ (SOPs) als stabilisierende Rahmenbedingungen an – z.B. Mindestens 30 m Abstand beim Abfahren, LVS-Check am Ausgangspunkt, Einzelfahren in extrem steilen Hängen u.a.m. Die meisten dieser SOPs sind einfach und rasch erlernt.

Praktische Lawinenkunde muss einfach sein! Und tatsächlich kann man mit wenigen Faustregeln das verbleibende Risiko auf ein gesellschaftlich akzeptables Restrisiko (ca. auf das Risiko im Straßenverkehr) minimieren.

Was sollte jeder Snowboarder/Skifahrer beim Fahren im freien Gelände beachten?

Er sollte …

  1. über die aktuelle Lawinensituation Bescheid wissen: Gefahrenstufe (wie gefährlich ist es heute?), Gefahrenstellen (wo ist es heute gefährlich?), Gefahrenquellen (wovon geht die Gefahr aus?).
  2. vollständig ausgerüstet sein und mit den Umgang mit der Ausrüstung beherrschen: LVS (3-Antennen-Gerät), Schaufel und Sonde sind Standard, Lawinen-Airbag ist eine Empfehlung. Gerade für Freerider sollte der Lawinen-Airbag allmählich Standard sein (ohne allerdings damit seine Risikobereitschaft zu steigern!). Handy, Erste-Hilfe und Biwaksack gehören natürlich auch noch zur Standard-Notfall-Ausrüstung.
  3. mit Freunden und nicht allein unterwegs sein. Mit Freunden, die gemeinsam und aktiv das Ziel verfolgen, unfallfrei zu bleiben.
  4. die Faustregeln kennen, die Hangneigung und Gefahrensituation in Beziehung setzen – z.B. Bleib bei Stufe 3 (erheblich) unter 35° und fahr nur dann steiler, wenn du gute Argumente hast.
  5. die Standardmaßnahmen aus Stop or Go konsequent umsetzen – z.B. nur in großen Abständen oder einzeln steile Hänge befahren.

Was hältst du von Lawinenrucksäcken mit Airbags? Verwendest du selbst einen?

Lawinen-Airbag-Rucksäcke stellen einen Paradigmenwechsel in der Lawinen-Rettungstechnik dar. Der Alpenverein hat das sehr früh erkannt und bereits 1997, als erster alpiner Verband weltweit, eine klare Empfehlung ausgesprochen.

Wenn ich mein Risiko, in einer Schneebrettlawine zu sterben, auf das heute kleinstmögliche Maß reduzieren möchte, muss ich einen Airbag verwenden. Wenn ich, wie schon gesagt, mein Risikoverhalten so gestalte, als ob ich keinen Airbag hätte. Auch die Aussagen der Forschung sind eindeutig, wie Studien des Schweizer Lawinen-Forschungs-Instituts (SLF) belegen:

  • è SLF 2010: „Mit einem ABS Lawinenairbag konnte eine Überlebensrate von 97% statistisch evaluiert werden, während ohne ABS Lawinenairbag 75% überlebt haben.“
  • è SLF 2014: „Von Lawinen erfasste Personen mit aufgeblasenem Lawinenairbag haben eine deutlich höhere Überlebenschance als Personen ohne Lawinenairbag. […] Bei den untersuchten Lawinenopfern reduzierte sich die Sterblichkeit mit einem aufgeblasenen Airbag um die Hälfte von 22% auf 11%.“

Hast du einen Favoriten unter den Lawinenrucksäcken? Wenn ja, warum?

Ja, mein Favorit ist ganz klar das ABS-System. Da stecken 30 Jahre Entwicklungsarbeit drin, das Doppel-Airbag-System finde ich dem Mono-Airbag überlegen und die Rucksäcke sehen zudem stylisch aus und das aufzippen unterschiedlicher Packsäcke unterstützt meine unterschiedlichen Anforderungen – ob ich als Bergführer, Ausbilder oder privat unterwegs bin.

Lieber Michael, vielen Dank für das Interview.

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Das Foto zu diesem Beitrag wurde von Michael Larcher zur Verfügung gestellt.